Tagung
"Bürgerbahn vor Börsengang
- Die Zukunft der Flächenbahn in Bayern"
am 08. Juli 2000 in Nürnberg

VCD Logo - Neue Wege

Landesverband Bayern e.V.
Enderleinstraße 11
90478 Nürnberg
Telefon (0911) 47 17 43
Telefax (0911) 47 64 73


Nürnberg, 4. Juli 2000

Referat von Matthias Striebich, Landesvorsitzender des Verkehrsclubs Deutschland (VCD), Landesverband Bayern:

Flächenbahn und weitere Forderungen des VCD Bayern an eine zukunftsweisende Verkehrspolitik

Vorbemerkung

Der Verkehrsclub Deutschland VCD ist ein Verkehrsclub für Umweltbewußte und hat sich das Motto "Wir gehen neue Wege" auf die Fahnen geschrieben. Der VCD versteht sich dabei als Interessenvertretung für alle umweltbewußten Verkehrsteilnehmer, also vor allem Fußgänger und Radfahrer mit einem besonderen Augenmerk auf die schwächsten - Kinder, alte Leute - und die Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel (Bahnen und Busse). Zum Klientel des VCD gehören auch umweltbewußte Autofahrer, die aufgrund heute noch fehlender Alternativen oft gezwungen sind, mit dem Auto zu fahren. Für diese bietet der VCD Serviceangebote und setzt sich politisch dafür ein, daß der Zwang zum Autofahren durch Schaffung von Alternativen immer weiter reduziert wird. Nicht zuletzt versteht sich der VCD als Umweltverband, der sich für eine umwelt- und sozialverträgliche Verkehrspolitik einsetzt.

Die Sicht des Fahrgastes, die uns hier vom Programm her vorgegeben wurde, ist also nur eine der Blickrichtungen, aus welcher der VCD die Fragestellung nach der Zukunft der Bahn betrachtet - es werden auch aus der Sicht des Umweltverbandes dazu noch ein paar Bemerkungen zu machen sein. Ich möchte aber sehr gerne mit der Sicht des Fahrgastes beginnen und hier die Vision des VCD darstellen.

Die Vision einer Bahn der Zukunft aus der Sicht des Fahrgastes

Die Vision einer Bahn der Zukunft aus der Sicht des Fahrgastes bedeutet eine Flächenbahn, ergänzt durch einen Flächenbus. Es ist daher aus unserer Sicht richtig und lobenswert, daß für diese Tagung zur Zukunft der Bahn als Bürgerbahn der Begriff "Flächenbahn" zentral im Titel auftaucht - die Bürgerbahn muß eine Flächenbahn sein.

Was bedeutet das konkret?
Ich kann dazu natürlich nur einige Stichworte nennen.

Zunächst ein paar Worte zur Begründung. Der große Erfolg des Automobils fußt weniger auf der großen Schnelligkeit des Autos über große Entfernungen, sondern in erster Linie auf der hohen zeitlichen und räumlichen Verfügbarkeit - es steht vor der Haustüre und man kann jederzeit losfahren. In den allerhintersten Winkel unseres Landes führen bestens ausgebaute Straßen, meist sogar mehrere. Das macht Autofahren attraktiv im Alltag (wer rast schon im Alltag zwischen Metropolen hin und her - und selbst wenn er das tut, wird er feststellen, daß dort die Bahn - auch ohne 300 km/h zu fahren - attraktiver ist, denn mit dem Auto kann man vielleicht schnell auf der Autobahn rasen, aber bei der Fahrt in die City steckt man im Stau).

Die Bahn bzw. die öffentlichen Verkehrsmittel als Gesamtsystem müssen sich, wenn sie erfolgreich sein wollen, an den genannten Erfolgsfaktoren des Autos orientieren. Natürlich werden öffentliche Verkehrsmittel im allgemeinen nicht direkt vor der Haustüre losfahren und man wird nicht zu einem beliebigen Zeitpunkt losfahren können, aber was das öffentliche Verkehrssystem braucht - dringend braucht - ist eine Integraler Taktfahrplan, der diesen Namen auch verdient. Das bedeutet, daß neben dem Prinzip des Taktverkehrs "(Mindestens) jede Stunde - jede Richtung" das System von Knotenbahnhöfen und -haltestellen realisiert werden muß, an denen sich Züge (und Busse bzw. immer mehr auch Straßenbahnen) zur vollen bzw. zur halben Stunde treffen, so daß man in sehr kurzer Zeit in jede Richtung umsteigen kann. Dazu muß bei allen Ausbaumaßnahmen im Nah- und Fernverkehr statt dem Prinzip "so schnell wie möglich" die Frage gestellt werden, was ist nötig, um das System Integraler Taktfahrplan zu optimieren.

Das Problem, warum der öffentliche Verkehr gegenüber dem Autoverkehr oft so wenig attraktiv wirkt , sind ja - gerade im Marktsegment kurze bis mittlere Entfernungen und das ist nach wie vor der Bereich, in dem ein Großteil des Verkehrsaufkommens stattfindet - nicht so sehr lange Fahrzeiten, sondern lange Wartezeiten. Ein paar Beispiele dazu:

  • Pegnitz - Neustadt/Aisch, 109 km, beides mittelgroße Städte am Rande des Einzugsgebiets von Nürnberg mit Eilzughalt; die reine Fahrzeit mit Eilzügen beträgt etwas mehr als eine Stunde; die Reisezeit dagegen meistens fast zwei Stunden, weil fast 40 Minuten Wartezeit und Anschluß so ungünstig, daß mindestens eine der Teilstrecken mit langsameren Zügen gefahren werden muß.
  • Neuendettelsau - Straubing, 182 km, reine Fahrzeit etwas mehr als zwei Stunden; die Reisezeit beträgt dagegen meist über drei Stunden, oft 3 1/2 Stunden.
  • Nördlingen - Miltenberg, 210 km, reine Fahrzeit ca. 3 1/2 Stunden; die Reisezeit beträgt (obwohl teilweise der ICE benutzt wird) mindestens 4:12 Stunden (wenn Anschlüsse zufällig halbwegs passen) bis weit über fünf Stunden.

Hier gäbe es ohne den aufwendigen Bau von Hochgeschwindigkeitsstrecken sehr viel zu optimieren. Die Reisezeiten könnten mit einem Bruchteil des Aufwands, der für Hochgeschwindigkeitsstrecken nötig ist, um teilweise 50 Prozent reduziert werden - und dies flächendeckend und nicht nur zwischen einzelnen Metropolen.

Ich möchte als Zusammenfassung der Vision des VCD aus Fahrgastsicht kurz in Stichworten unsere Forderungen vorstellen. Die Forderungen sind die verkürzte Form des Forderungskatalogs der Initiative "Modernes Bayern-Netz für Bahn und Bus", die der VCD Bayern gemeinsam mit ProBahn und BN initiiert hat:

Neun Forderungen für ein "Modernes Bayern-Netz für Bahn und Bus"

  1. Ein attraktives Angebot im Bayern-Netz von 5 bis 24 Uhr
    Bayern braucht ein attraktives Angebot im öffentlichen Verkehr täglich von 5 bis 24 Uhr, in den Nächten Freitag/Samstag und Samstag/Sonntag noch länger. Das Grundangebot für Bahnen und Busse ist mindestens ein Stundentakt, wobei der Takt in der Umgebung größerer Städte (ab ca. 50.000 Einwohner) auf einen Halb-Stunden-Takt verdichtet werden soll.
  2. Ein dichtes Bayern-Netz für ganz Bayern
    Unser Ziel ist, dass für 90 Prozent der Bevölkerung eine regelmäßig bediente Haltestelle in der Nähe der Wohnung liegen soll. Haltestellen sollen maximal 500 Meter von der Wohnung und maximal 300 Meter von wichtigen Arbeits-, Einkaufs-, Kultur- und Dienstleistungsstandorten entfernt sein.
    Dazu muss das Schienen- und Busnetz viel enger geknüpft und verbessert werden. Neue Bus- und Bahnlinien sowie Wiederinbetriebnahmen von Bahnstrecken sind notwendig. Die Zugangsmöglichkeiten zum Netz sind durch siedlungsnahen Neubau bzw. Wiedereröffnung von Haltestellen und Bahnhöfen zu verbessern.
  3. Leistungsfähige Schienenwege als Rückgrat des Bayern-Netzes
    Die Schienenstrecken sind das Rückgrat des Bayern-Netzes. Deswegen müssen die bisher vernachlässigten Zweigstrecken endlich auf einen zeitgemäßen Stand und eine attraktive Reisegeschwindigkeit gebracht werden. Der Busverkehr soll die Schiene zu einem flächendeckenden Netz ergänzen.
  4. Moderne Fahrzeuge für das Bayern-Netz
    Modernes Zugmaterial mit hohem Komfort, geringem Energieverbrauch, hoher Wirtschaftlichkeit und hohem Beschleunigungsvermögen sind eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Bahn. Neigetechnikzüge machen den regionalen Schienenverkehr schneller und attraktiver.
  5. Barrierearmer Zugang zum Bayern-Netz für alle
    Der Zugang zum Bayern-Netz soll für alle so barrierearm wie möglich sein - besonders mit Blick auf die Bedürfnisse von Behinderten, Alten, Kindern, usw. Dabei wird gleichzeitig die Fahrradtransportmöglichkeit geschaffen bzw. verbessert.
  6. Attraktives Tarifsystem für das Bayern-Netz
    Wir fordern ein attraktives Tarifsystem für das Bayern-Netz, das vor allem familienfreundlich sein muss. Auch für kurze Entfernungen sollen günstige Angebote vorhanden sein. Alle Bahnen und Busse sollen mit dem gleichen Ticket benutzbar sein.
  7. Qualitätssprung für Bayerns Mittel- und Großstädte und deren Umland
    Ein Qualitätssprung im Schienenpersonennahverkehr ist besonders in Bayerns Mittel- und Großstädten erforderlich, um in diesen Regionen eine angemessene Bedienungsqualität und eine Entlastung von Lärm, Abgasen und Stau zu erreichen. So muss in den Ballungsräumen Augsburg, Ingolstadt, Regensburg und Würzburg ein verdichtetes Zugangebot (Regio-S-Bahn) mit Taktzeiten von 15 bis 30 Minuten realisiert werden.
    In Städten wie Aschaffenburg, Coburg, Erlangen, Hof, Kempten, Landshut, Passau, Regensburg und Rosenheim sind moderne Straßenbahnsysteme für Stadt und Umland nach dem Vorbild Karlsruhes zu planen und kurz- bis mittelfristig zu realisieren.
  8. Moderne attraktive Haltestellen für Bahn und Bus im Bayern-Netz
    Bahnhöfe und Haltestellen sind die Visitenkarte des öffentlichen Verkehrs. Sie sind daher umfassend und zügig zu modernisieren und auf einen attraktiven Standard zu bringen. Dazu gehören kurze Wege beim Umsteigen mit Witterungsschutz und eine freundliche Gestaltung mit folgender Mindestausstattung: Überdachte Sitzgelegenheiten, lesbare und beleuchtete Fahrpläne, Umgebungspläne, Uhr.
  9. Mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit des Bayern-Netzes
    Die Möglichkeiten, die Qualität und den Angebotsumfang des Schienenpersonennahverkehrs durch Ausschreibungen zu verbessern, sollten konsequent genutzt werden. Dabei ist die Festlegung von Qualitätsstandards hinsichtlich Sauberkeit, Sicherheit, Pünktlichkeit, und Anschlussicherung (auch bei unterschiedlichen Betreibern) unabdingbar.
  10. Die Sicht des Umweltverbands

    Die Sicht des Umweltverbands deckt sich weitgehend mit der Sicht des Fahrgastes, geht aber zum Teil darüber hinaus. Als Umweltverband berücksichtigen wir auch die Interessen derjenigen, die vom Verkehr betroffen sind, z.B. durch Lärm oder Abgase, obwohl sie - gerade - nicht an ihm teilnehmen. Außerdem berücksichtigen wir auch finanzielle Gesichtspunkte - der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur muß finanzierbar bleiben und darf nicht noch unsere Kinder und Enkel in zwanzig oder dreißig Jahren übermäßig belasten. Deswegen sind aufwendige Prestigeobjekte (wie Eisenbahnhochgeschwindigkeitsstrecken), private Vorfinanzierungen (welche die Ausgaben der so finanzierten Projekte vervielfacht und so auch folgende Generationen immens belastet) sowie Doppelinvestitionen zu vermeiden (nachdem wir uns für den Ausbau der Schiene einsetzen, müssen aus unserer Sicht also die Ausgaben für den Straßenneubau massiv zurückgefahren werden, zumal wir das dichteste Straßennetz der Welt haben - die bisher diesbezüglich von der rot-grünen Bundesregierung eingeleiteten Schritte sind leider in höchstem Maße unzureichend und enttäuschend).

    Aus der Sicht des Umweltverbandes sind zum Thema Zukunft der Bahn folgende, weitere Punkte von Interesse: Der Güterverkehr, der Fernverkehr (besonders die Zukunft der Interregios) und die allgemeine Frage, wie der Bahnverkehr so organisiert werden kann, daß er effizient, bürgernah und geeignet ist, möglichst viel Verkehr auf die Schiene zu bringen.

    Die Fehler der Bahnreform korrigieren: Einheit von Fahrweg und Betrieb, Politische Verantwortung für Güterverkehr und Fernverkehr

    Dieses Thema ist sehr umfassend und ich kann hier nur auf Stichpunkte eingehen:

    • Zunächst zum Güterverkehr und Fernverkehr: Es war einer der Kapitalfehler der Bahnreform, den Güterverkehr und den Fernverkehr als per se eigenwirtschaftlich anzusehen und damit vollständig seinem Schicksal zu überlassen - zumal die politischen Rahmenbedingungen weiter sehr ungünstig für die Bahn geblieben sind. Was wir in der Folge erlebt haben, war ein dramatischer Einbruch im Güterverkehr und es droht ständig ein vergleichbarer Einbruch im Personenfernverkehr abseits der ICE-Magistralen, vor allem im IR-Verkehr. Die Bahn zieht sich im Güterverkehr immer mehr aus der Fläche zurück. Was gerade stattfindet, ist ein weiteres dramatisches Ausdünnen des Bahnnetzes (wobei die Strecken meistens gleich abgebaut werden). Dabei brauchen wir die Flächenbahn gerade auch im Güterverkehr. Die Politik macht es sich weitgehend einfach: Sie verweist darauf, daß seit der Bahnreform Güterverkehr und Fernverkehr von der DB AG eigenwirtschaftlich betrieben werden und daß die Politik "leider, leider" keinen Einfluß mehr darauf hat - oder die ganz schlauen Politiker stellen öffentlichkeitswirksam Forderungen an die DB AG, die dort natürlich nicht beachtet werden, ja gar nicht beachtet werden können, weil die DB AG ja angesichts der Rahmenbedingungen und ihres "Auftrags" als Aktiengesellschaft, möglichst wirtschaftlich zu operieren, gar nicht anders kann als so zu handeln wie sie es tut. Die Politik muß daher wieder die Verantwortung für den Güterverkehr- und den Personenfernverkehr übernehmen und hier im Sinne einer massiven Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene handeln. Das heißt, die Politik muß sich - nicht nur verbal - sondern finanziell, ordnungspolitisch, usw. dafür engagieren, den Rückzug der Bahn aus der Fläche im Güterverkehr und im IR-Verkehr zu stoppen. Für die Flächenbahn im Güterverkehr müssen Zweigstrecken, Ladegleise, Rangierbahnhöfe erhalten bleiben und die Ideologie, die Bahn könne Güter nur als Ganzzug über weite Strecken befördern, muß ad acta gelegt werden.
    • Ein weiterer Fehler der Bahnreform war die Zerschlagung der Bahn in verschiedene Organisationseinheiten, insbesondere die Aufteilung in Fahrweg einerseits und Betrieb andererseits. Das hat man inzwischen auch bei der DB erkannt - zu lesen in einem Artikel in der FAZ vom 23.06.2000, in dem der Leiter der DB Marketing / Strategie mit der Aussage zitiert wird, die "Aufteilung in DB Netz, Regio und Station& Service [...] habe sich als zu bürokratisch erwiesen." Richtig! Das haben alle, die etwas von Bahnbetrieb verstanden haben, schon vor 6 1/2 Jahren gesagt, aber die Politik hat sich anders entschieden - aus welchen Gründen auch immer. Die DB AG mag mit dieser neuen Erkenntnis eine bestimmte Strategie verfolgen (sich ihre Pfründe besser zu sichern), aber das ändert nichts daran, daß die Aussage als solche stimmt. Die angedachte Schaffung von regionalen Bahngesellschaften, bei denen der Fahrweg und der Betrieb wieder unter einem Dach vereint sind, ist daher aus unserer Sicht ein richtiger Ansatz, Kundennähe und Effizienz zu verbessern.

    Exkurs: Das Wasserstoffauto ist keine Lösung - Das Präsentieren solcher Scheinlösungen verhindert die notwendige Verkehrswende

    Ich muß zum Abschluß auch noch einen kleinen Exkurs machen, denn man auf einer Veranstaltung im Umfeld der Grünen derzeit als Umweltverband schwerlich eine verkehrspolitische Rede halten ohne auf das sagenhafte Rezzo Schlauch / Ali Schmidt / usw. - Papier "Autofahren mit Sonne und Wasser" einzugehen. Die Thesen aus diesem Papier haben natürlich direkte Auswirkungen auf die Flächenbahnkonzepte, über die wir bisher gesprochen haben und bei denen wir uns so wunderbar einig waren. Dieses Papier von Rezzo Schlauch, Ali Schmidt und anderen ist eine Steilvorlage für alle Gegner der Flächenbahn, denn in diesem Papier wird praktisch das Auto als das Verkehrsmittel für die Fläche gepriesen, das es auch bleiben werde, und das angeblich umweltfreundliche Wasserstoffauto als die Lösung schlechthin präsentiert (auch wenn dann ganz zum Schluß als Feigenblatt doch noch mal auf die Probleme des motorisierten Individualverkehrs eingegangen wird, die durch das Wasserstoffauto nicht zu lösen sind).

    Wenn das Auto das Verkehrsmittel Nummer Eins in der Fläche ist und auch bleiben soll, wozu braucht man dann noch eine Flächenbahn? Dann laßt uns "umweltfreundliche" Wasserstoffautos fördern und dort, wo die schlimmsten Belastungen des Autoverkehrs offensichtlich werden - in den Ballungsräumen - ein paar U- und S-Bahnen bauen (wie alle anderen politischen Parteien übrigens auch). Dann ist doch alles in Butter - oder? Eine Flächenbahn braucht es dann jedenfalls nicht und die ist ja dann auch nicht finanzierbar (weil das Geld in die Förderung solarer Wasserstoffautos fließt und die Wirtschaftlichkeit der Flächenbahn natürlich damit steht und fällt, daß ein Großteil des Verkehrs auf ihr abgewickelt wird - und eben nicht mit Autos gleich welchen Antriebs).

    Aussage und Wirkung dieses Papiers sind fatal. Zentrale Aussagen aus dem Papier sind einfach falsch - dazu einige Stichworte:

    • Das Wasserstoffauto ist nicht umweltfreundlich - auch wenn der Wasserstoff solar erzeugt werden sollte. Das ÖKO-Institut Freiburg hat schon vor Jahren das Wasserstoffauto als eine der Scheinlösungen im Verkehrsbereich dargestellt - diese Aussage hat nichts an Aktualität verloren. Dabei ist natürlich ein Zusammenhang mit energiepolitischen Überlegungen zu beachten, die hier nicht im Detail dargestellt werden können, aber folgende, kurze - aber wie ich denke einleuchtende - Überlegung mag dies zeigen: Wenn wir überlegen, welche gigantische Energiemenge, die bisher aus Atomenergie oder fossiler Energie gewonnen wird, in den nächsten Jahrzehnten durch regenerative Energien ersetzt bzw. eingespart werden muß, wird schnell klar, daß auch das "solare Zeitalter" - so sehr wir es herbeisehnen - nicht bedeutet, daß wir in den nächsten 50 Jahren (und wahrscheinlich überhaupt nie) Energie zum Verplempern übrig haben werden - und der Betrieb von Wasserstoffautos als Verkehrsmittel Nummer Eins ist und bleibt Energieverschwendung. In den nächsten 20, 30 oder gar 50 Jahren bedeutet jeder Liter Wasserstoff, den wir in einem Wasserstoffauto verbrennen, daß dafür an anderer Stelle fossile oder atomare Energie mehr verbraucht werden wird.
    • Fast noch schlimmer aber ist, daß das Ziel, den Autoverkehr deutlich zu reduzieren, mit den Aussagen des ersten Abschnittes praktisch aufgegeben wird, in dem praktisch ein "Grundrecht auf automobile Mobilität" manifestiert wird. Kein Wort davon, daß viele der Vorzüge des Autos auch mit einem entsprechend ausgebauten öffentlichen Verkehrssystem und durch nicht-motorisierten Verkehr erreicht werden können, ohne die bekannten negativen Folgen des Autoverkehrs.
    • Die Grundthesen des Papiers lauten "Das Auto ist und bleibt vor allem auf dem Land Verkehrsmittel Nummer 1" und "Das solare Wasserstoffauto löst (angeblich) die Umweltprobleme". Damit werden die ganzen weiteren, schlimmen Folgen des Autoverkehrs auf Dauer akzeptiert: Lärm, Gefährdung von Fußgängern und Radfahrern, besonders von Kindern, Flächenverbrauch, Ressourcen- und Energieverbrauch bei der Herstellung, usw. Selbst in dem Alibiabschnitt am Schluß, wo von den Grenzen der individuellen Mobilität die Rede ist, wird mit keinem Wort gesagt, daß der Autoverkehr und seine negativen Folgen reduziert werden müssen, sondern lediglich darauf hingewiesen, daß ein grenzenloses Wachstum nicht möglich ist und daß man doch Güter auf die Bahn verlagern und öffentliche Verkehrsmittel ausbauen soll (das gleiche fordern auch alle anderen politischen Parteien und das könnte notfalls auch noch der ADAC unterschreiben).
    • Wenn das Auto das Verkehrsmittel Nummer Eins vor allem auf dem Land bleibt, werden die öffentlichen Verkehrsmittel zumindest dort weiterhin vor sich hinkümmern. Es ist eben nicht möglich, beides zu fördern. Dann werden - gerade auf dem Land - weiterhin diejenigen von einer attraktiven Mobilität weitgehend ausgeschlossen bleiben, die über kein Auto verfügen. Das Konzept für ein flächendeckendes System von öffentlichen Verkehrsmitteln muß davon ausgehen, daß ein Großteil des Verkehrs auch darauf abgewickelt wird.

    Mit diesem Papier haben sich die Verfasser sicher keine Freunde bei der Umweltbewegung gemacht und da kommt doch das Klientel der Grünen her. Andererseits bezweifle ich sehr, daß sie bei denjenigen, deren Position sie in dem Papier vertreten, wesentlich Boden gutgemacht haben. Die Hardcore-Autofahrer werden die Grünen auch weiterhin nicht wählen, und die BILD-Zeitung wird weiterhin nicht positiv über sie berichten, sondern eher voll Häme darauf hinweisen, daß die Grünen nicht einmal mehr zu ihren grundsätzlichen Überzeugungen stehen.

    Zusammenfassung: Verkehrswende ist notwendig

    Lassen Sie mich zum Abschluß zusammenfassen:

    • Wir brauchen eine Verkehrswende so schnell wie möglich!
    • Dazu brauchen wir Flächenbahn und Flächenbus mit einem Integralen Taktfahrplan und einer wesentlichen Verdichtung des Schienennetzes - Wiederinbetriebnahmen und Neubau von Bahnstrecken.
    • In den Städten - auch in mittelgroßen Städten und erst recht in allen Großstädten - und deren Umland brauchen wir neben der Verdichtung des Zugangebots einen massiven Neu- und Ausbau von Straßenbahnen bzw. Regionalstraßenbahnen.
    • Wir haben bereits das dichteste Straßennetz der Welt und brauchen daher im Wesentlichen keinen Straßenneubau mehr. Die Mittel für den Straßenneubau müssen nahezu vollständig in den Ausbau des öffentlichen Verkehrs und in Maßnahmen zur Förderung des nicht-motorisierten Verkehrs umgeschichtet werden (die Umschichtung von 100 Mio. DM sind in diesem Zusammenhang wirklich ein lächerliches Peanut und kein großartiger Erfolg).
    • Wir erwarten nicht, daß es mittelfristig überhaupt keine Autos mehr geben wird, aber wir wollen, daß das Auto - auch in der Fläche - als Verkehrsmittel Nummer Eins durch intelligentere Lösungen abgelöst wird.

    Niemand kann vernünftigerweise erwarten, daß die Grünen dies alles kurzfristig als kleiner Koalitionspartner in der Bundesregierung gegen einen autoverliebten Kanzler durchsetzen, aber wir fordern sie auf, wenigstens inhaltlich zu diesen Positionen zu stehen.

    Rückfragen: Matthias Striebich, Tel. 09192 / 6799

zurück zur Homepage

zur Übersicht Texte